Mein Lieber Rudi,
jetzt habe ich, in meinem 155.Lebensjahr endlich die Ruhe
gefunden, Dir zu schreiben. Die immer besinnliche Zeit zum Jahreswechsel will
ich nutzen, um Dir Mut zu machen. Du sollst sehen, wie leicht es ist, auch die
schwersten Prüfungen anzugehen und zu bestehen.
Ihr habt es jetzt mit Völkerwanderungen zu tun. Ganze Völker
sind unterwegs oder werden demnächst aufbrechen, weil die geänderten
klimatischen Verhältnisse sie dazu zwingen. Doch fürchte Dich nicht. Du mußt
nur genau hinsehen und hinhören; sei achtsam. Du mußt nur mitfühlen, um die
Lage richtig einzuschätzen.
Veränderungen, Rudi, finden
einfach nur statt. Sie haben keinen Vorlauf, keinen Übergang. Wenn es soweit
ist, mußt Du nur losgehen. So wie wir es vor einhundert Jahren getan haben.
Davon will ich Dir schreiben.
Die Erkenntnis – 2012: Der Bürgerthaler war endgültig in der Sackgasse gelandet
Was liefen dort Anfang des letzten Jahrhunderts für
Gestalten auf der Erdoberfläche herum. Wir, die Waldschrate und vor allem
unsere Verwandten, die Erdmännchen, die hörten über ihren Köpfen ein immer
aufgeregter werdendes Getrampel. Besonders störend für ihre Nachtruhe war, daß
die da oben immer mehr auf derselben Stelle traten und stampften. Dabei sangen
sie vollkommen unverständliche Lieder, die immer mehr in ein Blöken übergingen.
So wie beim Hornvieh, wenn der Bauer nicht zum Melken kommt: Muh-HU-Huhhhh …
Einfach schrecklich! Von dreien dieser Tanzgruppen will ich Dir genauer
berichten.
Die Gutbürgerlichen
Diese Gruppe war sozusagen der Kern der Herde, die
sogenannte Mitte der Gesellschaft. Sie waren die Kinder, Enkel und Urenkel der
Generation, die den Weltkrieg losgetreten hatte. Sie waren allerdings der
Ansicht, sie hätten gewonnen. Nun, wir wissen genau, sie waren wie ihre Väter
und (Ur)Großväter eigentlich nichts weiter, als die größten Nieten und Versager
aller Zeiten.
Das ganz besondere Merkmal dieser Gruppe, ihr Markenkern
(solche Floskeln mit der geistigen Tiefe eines möglichst kurzen Lexikoneintrages
waren damals sehr en vogue) war, daß sie stets irgendjemanden brauchten, der
„ihnen das macht“. Sie konnten nichts, aber auch rein gar nichts selbst. Ihre
Vorfahren mußten selbst zur berühmten Stunde Null 1945 getragen werden.
Sie waren politisch eigentlich nicht mehr lebensfähig. Sie
brauchten Gefangene, Fremdarbeiter oder Leiharbeiter (und natürlich alle
ehemaligen DDR-Bürger), die ihnen erstens die Arbeit machten; sie selbst
konnten kaum noch Messer und Gabel beim Essen halten. Zweitens brauchten sie
unbedingt jemanden, auf den sie herabsehen konnten. Das war gewissermaßen das
Fundament ihrer Gesellschaft: Das auf andere herabsehen und sich selbst zu
ständigen Weltmeistern, zur Elite und zu höchst kreativen Erfindern erklären
(Was nicht alles in unserem Lande im 20. Jahrhundert erfunden worden und dann von bösen Onkeln und
Tanten andernorts zu Geld gemacht worden war: Fax, Walkman und Computer zum
Beispiel).
Sehr, sehr wichtig, ja überlebenswichtig für diese Leutchen
war, daß sie als politische Führer stets nur solche Herdenteile erwählten, die
unbedingt weniger können mußten als sie selber. Ein einzigartiges Phänomen, ein
Unikat im Universum. So war es damals sehr leicht, Reichs- und Bundeskanzler zu
werden. Man mußte immer nur behaupten, man sei „genau wie ihr, liebe Mitte,
liebes Volk“. Man könne und wolle nichts anderes, vor allem nichts besseres.
Das war ganz, ganz wichtig.
Ulkigerweise führte diese Haltung aber keineswegs zu einer
„Herrschaft des Volkes“ oder auch nur zu einer „Gestaltung durch das Volk“.
Genau das Gegenteil war der Fall: Die Gutbürgerlichen waren der Inbegriff des
Untertanen. Sie wollten genau das sein, egal ob unter König, Kaiser, Führer oder
Kanzler. Hauptsache, diese gaben Ihnen irgendjemanden, auf den sie ein wenig
treten konnten. Dann war „Ruhe die erste Bürgersehnsucht“.
Nebenbei bemerkt: Sehr lustig war zu der Zeit das politische
Kabarett. Jedes Jahr wurden dort Jahresrückblicke gemacht. Und dann wurde aber
richtig Dampf abgelassen. An einen wuscheligen Typen, der dazu immer Weizenbier
trank, kann ich mich noch erinnern. Der parodierte immer die Kanzler so schön.
Und wenn der über eine der damaligen Kanzlerinnen etwas zu deren Gesichtszügen
(Oder waren es doch die Kniescheiben?) zum besten gab, dann kicherte das
Publikum doch tatsächlich hinter vorgehaltener Hand. Das waren schon toughe
(Entschuldigung: taffe) Typen damals.
Ebenso wichtig war für diese Leute: „Wer oben ist, will oben
bleiben“. Und da wurde es dann richtig putzig. Die wußten gar nicht, wie „Oben“
denn definiert werden sollte. Und vor allem hatten sie keine blasse Ahnung, wie
man denn dahin käme. Sie hatten alles ja immer nur geerbt oder von anderen vorgesetzt
bekommen. In dieser Hinsicht taten sich besonders Leute hervor, die sich als
„Grüne“ bezeichneten. Ich kann Dir, lieber Rudi, nun nach so vielen Jahrzehnten
wirklich nicht mehr sagen, was das mit der Farbe auf sich hatte. War wohl auch
nur so eine Art „testimonial“, wie man im Marketing sagte. Erinnern kann ich
mich nur sehr genau an einen von denen, der mir schon 1986 erklärte:“Ja, mein
lieber Schrat, du bist halt ein paar Jahre zu spät geboren. Sonst wärest Du,
wie wir alle, beim Staat untergekommen.“ Das war das Pendant zu Aussagen: “Da
wo Du da herkommst und da wo Du da wohnst“, wie ich sie mir oft von reichen
Erben, staatspensionsgepolsterten Beamten und Förstern daheim im Wald habe
anhören müssen.
Sehr interessant war in diesem Zusammenhang auch die
sogenannte Staatsschuldenkrise, die die Gutbürgerlichen damals ans Laufen
brachte. Was konnten die rennen! Ein Durcheinander wie auf dem Hühnerhof. Oder
wie im Vogelschwarm, allerdings ohne die dazugehörige Schwarmintelligenz.
Dabei war die Ursache doch ganz einfach auszumachen: Das
waren die Gutbürgerlichen selbst. Ihre Bauern trieb seit Jahrzehten immer nur
eine Frage um: „Auf welche Subventionen muß ich im kommenden Jahr setzen?“ Ihre
wie vom Himmel gefallenen öffentliche Stellen und Positionen, auf die sie als
„Staatsbürger“ so pochten, verschlangen schon reichlich 30-40% der Haushalte,
mancherorts sogar knapp die Hälfte. Diese Idioten waren dabei, sich selbst
aufzufressen. Und sie merkten es nicht einmal, diese Fahnenträger des
Subsidiaritätsprinzips. Und so trotteten sie willig hinter all denen her, die
ihnen zumindest für die nächste Zeit Geld „besorgen“ konnten, an den „Märkten“
wie es damals hieß. Und auch auf die Idee, auf das Kriegführen zu verzichten,
kamen die nicht. Wer kein Geld zum Backen (… oder zum K…?) hat, der sollte
keinen Krieg führen. Das war schon so, als der Krieg erfunden wurde.
In sehr wenigen Momenten kamen Leute zu Wort, die die
Gutbürgerlichen als verkommen und verwahrlost, als kompromittiert durch ihre
„Verstrickungen“ im zwölf(tausend)jährigen Reich bezeichneten (Verstrickungen!
Sie waren die Nazis!). Das waren aber nur sehr wenige und sie wurden nicht
gehört.
Ja, die Gutbürgerlichen waren für die kommende Zeit nicht
mehr die richtigen; sie waren zu dumm, zu faul und zu dreckig. Stimmt schon.
Aber das reichte nicht aus, um die wahre Zäsur am Anfang des letzten
Jahrhunderts hinreichend genau zu beschreiben. Doch eines nach dem anderen.
Das Schlaraffenland der Marktliberalen
Nach all diesen doch eher düsteren Bildern soll es nun, wenn
schon nicht wirklich erfreulich, so doch wenigstens lustiger werden. Es gab
nämlich noch die Gattung der Marktliberalen. Die versprachen das
Schlaraffenland. Und sie selbst glaubten auch wirklich daran.
Sie wollten die Gesellschaft von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft umformen. Die wollten mit Geld Geld verdienen und
„arbeiten nicht mehr“, wie es ein Werbespot formulierte. Nun, auf den ersten
Blick hörte sich das nicht anders an, als wenn kaiserliche
Möchtegernkolonialherren vom „Platz an der Sonne“ träumten oder die Gutbürgerlichen im zwölf(tausend)jährigen
Reich sich aus dem eroberten Lebensraum ernähren wollten. Es schien so, als sei
das alles nur der schon bekannte Traum der Schmarotzer und Nassauer.
Diese Gattung war wirklich davon überzeugt, Geld könne Geld
schöpfen (so wie eine Wertschöpfung im industriellen Sektor ein recht
hilfreiches Modell ist). Genau das ging und geht aber nicht. Die schaufelten
Geld nur von links nach rechts und umgekehrt. Niemals wurde auf den diversen
Pfaden des Kapitalflusses irgendein Mehrwert geschaffen. Es war einfach nur ein
Umverteilen, ein Umbuchen, ein Scheingeschäft. Da war es dann auch kein Wunder,
daß die damals keine Steuern darauf zahlen wollten. Wo hätten die als Ausdruck
des Mehrwertes auch herkommen sollen?
Ganz toll war, daß die riesigen Vermögen, die dabei in
Windeseile entstanden nichts weiter waren als die Schulden anderer. Die
Provisionen, die bei diesen Geschäften abfielen waren allerdings auch kein
Mehrwert. Sie wurden ja nur vom Kuchen abgeschnitten. Und das wirklich Tollste
war, die Brüder und Schwestern im Geiste dort mußten Kredite erfinden, ja
zwangsweise herbeiführen, sonst hätten sie ja nichts gehabt, das sie in
„Handelsware“ (Verbriefungen) hätten umwandeln können. Was mit den Krediten
gemacht wurde, das spielte keine Rolle. Ganz wichtig war, daß die Staaten als
Kreditnehmer mit höchster Bonität das Ganze in gang hielten. Und die
Staatsdrömel haben auch kräftig die Kohle angenommen. Sonst hätten sie
womöglich noch ernsthafte Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben müssen. Aber
dazu fehlte es ihnen an den nötigen Ressourcen – dem Schmalz zwischen den
Ohren, nicht in den Ohren.
Es war tatsächlich aber noch schlimmer. So „beruhigten“ die
Reichen die Armen immer damit, daß das „Geld ja nicht weg sei, es sei gerade
nur woanders“. Das machten sie immer dann, wenn sie wieder einmal durch eine „Supergelegenheit“
den Zossen in die Grütze geritten hatten. In Wirklichkeit war aber Geld erstens
vernichtet worden, nämlich dadurch, daß Spekulationsobjekte, zum Beipiel
Immobilien, an Wert verloren. Diese Werte waren einfach nur weg.
Zweitens führte insbesondere die Anhäufung des Geldes in
immer weniger Händen (So, nun ist auch das klar: Die Schwarzen Löcher sind kein
Modell der Astronomie, sie gehören zur Wirtschaftslehre!) dazu, daß Geld dem
Kreislauf aus Werten und Geld entzogen wurde. Soviel konnten und wollten die City-Clowns
(auch City-Boys genannt) gar nicht „reinverstieren“, wie sie angesammelt
hatten. Es blieb hinter dem Ereignishorizont ihrer Schädeldecke auf immer im
Schwarzen Loch zwischen ihren Ohren verschwunden.
Zu allem Überfluß wurden diese Figuren auch noch künstlich
am Leben gehalten. Da der Dienstleistungssektor so umundbei 30% der
Wirtschaftsleistung ausmachte und man ja schließlich liefern mußte
(Wachstum!!!!!), mußte also täglich tüchtig „gedreht“ werden. Am Geldhahn
natürlich. Die Umschichtungen mußten weitergehen, sonst stand ja nichts im
Leistungsnachweis. Egal ob sinnvoll oder nicht. Vor allem mußten die Staaten
Anleihen ausgeben, natürlich zur Umschuldung, um den Kapitaldienst zu senken
(Da gab es sogar Anleihen zu 0% Zinsen, sogar Anleihen mit Handgeld!). Selten
so gelacht! Das Ganze hatte nur einen Sinn: Das Rad weiter zu drehen, am besten
immer schneller. So kam wenigstens keiner auf die Idee nachzudenken.
Wie abgrundtief, wie unendlich bescheuert diese Gattung war,
soll Dir auch eine Anekdote aus meiner eigenen Vergangenheit verdeutlichen.
Rudi, Du weißt, daß ich nach dem Krebstod meines Vaters vor einem zu hohen Berg
gestanden habe. Im letzten Gespräch mit meiner Bank bekam ich dann noch dies zu
hören: „Wenn Ihr Vater dann tot ist, Herr Schrat, dann bekommen wir ja seine
Rente“. In dem Augenblick wußte ich, daß ich einem Irren gegenübersaß. Einem,
der doof wie drei, nein wie hundert Meter Feldweg war. Und der war nicht
allein.
Staatsschulden von zwei Billionen waren doch gar nicht
schlimm, wenn vier Billionen Volksvermögen als Sicherheit zur Verfügung
standen. So dachten die damals. Und so kamen die auch auf eine rettende Idee:
Die Reichen sollten doch endlich einmal etwas „an die Gesellschaft
zurückgeben“. Damit könnte man doch einen guten Teil der Schulden tilgen und so
auf einem erträglicheren Niveau weitermachen. Du liest schon richtig, Rudi: Die
wollten weitermachen! Haben sie aber nicht dürfen, diese lebenden Beweise für
die Existenz der Ferengi.
Organisierer des demographischen Wandels
So, und nun noch etwas ganz, ganz Lustiges: Die Gattung der
„Organisierer des demographischen Wandels“. Die waren einfach nur „Härte Zehn“.
Die hatten festgestellt, daß unsere Gesellschaft schrumpft. Wir waren zwar
damals Papst, aber wir nahmen ab. Und das immer schneller.
Nun, eine schrumpfende Population geht einfach nur unter,
zumindest geht sie soweit zurück, bis sie in irgendeiner anderen aufgeht, also
im wahrsten Sinne des Wortes in einem anderen Schoß verschwindet, was ja auch
ganz angenehm sein kann. Will man das
nicht, so müssen die Lebensverhältnisse verbessert werden, herbeischrumpfen und
herbeisparen kann man das nicht. Nur wer eine gute Gegenwart und Zukunft für
sich selbst sieht, der sieht auch eine Zukunft für seine Kinder – und setzt
diese dann in die Welt. Nur dann machen sich Menschen auf den Weg.
„Incentives“ in dem Sinne, wie die Gutbürgerlichen und die
anderen sie verstanden, konnten nicht funktionieren. Die wollten Menschen in
Not halten und versklaven. Aber Sklavenhaltergesellschaften waren noch nie
lebensfähig.
Die „Organisierer des …“ waren nun eher die Sozialverbände
und ähnliche. Die wollten ja „nur in Würde altern“. Also sie reklamierten das
für sich. Sie wollten auch nur ein wenig zurückverteilen. Und ansonsten so
weitermachen wie bisher. Die waren einfach nur noch rührend, hilflos und
anrührend. Die berechneten irgendeine Zukunft für die nächsten fünfzig bis
sechzig Jahre voraus und warnten. Ja genau, das haben sie am meisten gemacht:
gewarnt. Nur getan haben sie nichts. Sie hatten auch keine Ahnung was.
Nur leider waren sie gefährlich. Denn sie hätten selektieren
müssen, wer in „Würde altert“ zum Beispiel und wer nicht. Das hätten die auch
ohne zu zögern gemacht. Haben sie aber nicht gedurft.
Und die vielen anderen …
Daneben gab es noch viele, viele andere. Die völkischen
Autarkisten zum Beispiel. Die wollten zurück in den deutschen Eichenwald (den
wollten sie dann auch noch zu Pellets verarbeiten und damit heizen), regionalen
Handel wollten die treiben. Bloß nichts Gobales mehr. Die wollten regionale
Währungen; und tauschen wollten die. Die hatten nicht nur einfach Angst vor
Gottes Schöpfung. Die hatten auch nicht nur nichts aus der Geschichte gelernt.
Die hatten gar nichts gelernt.
Oder die Privatisierer oder „Privat vor Staat“ und „das
regelt der Wettberwerb“. Also, ganz im Ernst, Rudi: Wenn einem keine neuen
Produkte und Konzepte mehr einfallen, so ist die Lösung nicht, Energie und
Wasser zwangsweise, gewissermaßen in einer andersfarbigen Kollektivierung, zu
privatisieren und zu Mondpreisen zu verkaufen. Das ist weder Kapitalismus, noch
Sozialismus. Das ist die Rückkehr zu einem Ideal des Feudalismus, das es so
selbst im mittelalterlichsten Mittelalter nicht gegeben hat. Fortschritt wird
dadurch nicht befördert. Er wird behindert, ja vorsätzlich verhindert.
Wettbewerb ist der Vorgang, dessen Ziel seine eigene Abschaffung, dessen Ziel
das Monopol ist. Das ist kein Grundsatz, das ist keine Leitidee, das ist die
reinste Form des Schwachmatismus.
Sehr ulkig anzusehen waren auch die Stellschraubendreher:
Die drehten immer und überall an etwas herum, das sie weder erschaffen noch
verstanden hatten. Und mehr gab es dazu auch nicht zu sagen.
Und dann gab es zu Anfang des letzten Jahrhunderts noch eine
ganz besondere Revuetruppe aus süßwassermatrosenden Zeitreisenden,
Nacktläufern, Eierstemplern und was weiß sonst noch alles. Die machten mit
einem Böötchen auf sich aufmerksam. Da war aber wirklich der ganze Rest
vertreten. Rudi, so etwas mußt Du einfach nur hinnehmen. Laß solche Figuren links
liegen und gehe deinen Weg allein.
Eine schrecklich schöne Erkenntnis bricht sich Bahn …
Soweit wäre ja alles erschöpfend beschrieben. Aber irgendwie
… Irgendetwas fehlt noch. Das, was damals zu beobachten war, war noch viel,
viel tiefgreifender. Wir hatten es mit einer Situation zu tun, wie es sie circa
40.000 Jahre zuvor zum letzten Mal gegeben hatte. Ja: Am Anfang des letzten
Jahrhunderts hatten sich zwei Arten von Menschen voneinander endgültig
getrennt: Der Homo sapiens sapiens, hervorgegangen aus dem homo sapiens und dem
homo waldschratiensis, und der homo bürgerthaliensis, der Bürgerthaler.
Wir sind uns auch heute noch keineswegs im klaren, ob dies
ein evolutionärer, ein biologischer Vorgang war. Oder doch eher, wir neigen zu
dieser These, ein soziologisches Phänomen: Eine Chance zur Weiterentwicklung
für den homo sapiens sapiens, die erst daraus erwuchs, daß der Bürgerthaler
mehr oder minder mit Vorsatz in die Sackgasse gelaufen war. Und darin auch
bleiben wollte. So wie der Neanderthaler sich wahrscheinlich immer weiter dahin
zurückzog, wo er meinte, sich auszukennen. Bis dieser Raum so klein geworden
war, daß es für den Fortbestand seiner Art einfach nicht mehr reichte. So eine
Art Grenze für das „kleinste funktionierende Sozialgefüge“. So oder so ähnlich
wohl.
Du kannst Dir das vielleicht wie einen Zug vorstellen, Rudi.
Einen Zug, mit dem der Bürgerthaler unterwegs war. Irgendwann war dieser Zug
nicht mehr der technisch beste. Irgendwann war vielleicht nur ein Wagen,
zunächst nur eine Achse, aus den Gleisen gesprungen. Der Zug fuhr aber weiter.
Es rumpelte zwar und die Kurvenfahrten wurden immer unruhiger. Das Gleisbett
wurde auch beschädigt. Die Steigungen wurden immer langsamer geschafft.
Manchmal hatte man sogar den Eindruck, nicht mehr über den Berg zu kommen.
Aber der Bürgerthaler hielt nicht an, um nach dem rechten zu
sehen. Er wollte gar nicht wissen, was da rumpelte. Es hätte ja sein können,
daß man das ganze Antriebskonzept hätte überarbeiten müssen. So genau wollte
das der Bürgerthaler nie wissen.
Irgendwann kam der Zug dann an eine ganz einfache, langgezogene
Kurve mit ganz leichter Steigung. Aber die hat er einfach nicht mehr geschafft.
Er blieb stehen. Die Bürgerthaler stiegen aus und bauten tolle neue Maschinen,
mit denen sie das Land hinter der kleine Kuppe, vor der ihr Zug stehengeblieben
war, erkundeten. So wie sie den Mars erkundeten. Sie machten große Pläne für
die Zeit nach der Kuppe, die genau besehen so klein war, daß man fast im Sitzen
über sie hinwegsehen konnte. Ihren Zug haben sie aber nie wieder in Gang
gebracht.
Sie wollten einfach nicht von ihrem schönen Zug, der sie
soweit getragen hatte, lassen. Sie wollten dableiben, obwohl sie ahnten, daß
sie das schöne neue Land hinter der kleinen, sanften Kuppe nie erreichen
würden.
Wir haben sie dagelassen.
2013: Alles neu macht der Mai – Quo vadis?
Männer sind primitiv. Frauen auch. Oder etwas rhythmischer
formuliert: Men are simple. Buisiness is simple. Politics are simple. Auf
Deutsch: Wir hatten nicht die Aufgabe, eine neue Moral, eine neue
Weltanschauung zu entwerfen. Unsere Aufgabe war es, die Spieler auf dem Feld neu
aufzustellen, die „Zusammenrottung im Anstoßkreis“ zu entwirren. Und wir mußten
Ziele aufzeigen, die es lohnte zu erreichen. Man bezeichnet so etwas auch mit
diesem einen Wort: Führung. Das ist die einzige Aufgabe, die es in der Politik
gibt. Und sie ist die schwerste.
Das alles mußte auch noch in der so schön vernetzten Welt,
insbesondere der europäischen passieren. Vor allem letztere war damals ja
berüchtigt, nichts, aber auch gar nichts nicht selbst regeln zu wollen. Ja,
und? Hätten sie ja auch können. Haben sie aber nicht.
Und wir hatten ein sogenanntes föderales (und ein Verbände-)
System geerbt. Ein System, daß aber auch von den Alliierten nach 1945 ganz
bewußt, sagen wir einmal „vertieft“, worden war. Damit wollten die
sicherstellen, daß wir uns schön mit uns selbst beschäftigen und nicht auf
dumme Gedanken kämen. Mit ersterem hatten sie Erfolg. Mit den dummen Gedanken
nicht.
Die Chance, schon zwanzig Jahre zuvor unser Vaterland neu zu
gestalten, die hatten wir versäumt. Die anderen Europäer hätten uns vielleicht,
mit ein wenig Aufsicht, damals sogar gewähren lassen. Stattdessen haben wir uns
mit der Ausplünderung der DDR beschäftigt. Auch so eine Beschäftigung mit sich
selbst.
Und wenn damals vor hundert Jahren halt alle die Wirtschaft
umtrieb, daß man es nicht mehr hören mochte, nun, dann fingen wir eben damit
an.
Was also tun?
Ziel allen Wirtschaftens wurde das Schaffen von Werten. Umverteilen
und Umbuchen war nicht mehr en vogue. Ganz und gar nicht mehr. Dazu haben wir
die Mehrwertsteuer benutzt, die einst vielleicht
wirklich nur dazu erdacht worden war, um an jeder Ecke jede und jeden
abschöpfen zu können. Doch in ihr steckte viel mehr. So war durch sie auf einen
Schlag jedes Segment des Wirtschaftens gleichwertig geworden, es gab nämlich
nur noch einen einheitlichen Steuersatz. Zusammen mit dem Instrument der
Produkthaftung wurde alles mit allem vergleichbar. Insbesondere wurde auf diese
Weise der gesamte sogenannte (Finanz-) Dienstleistungssektor aus seiner
Schmuddelecke hervorgeholt. Ja! Wir haben diese Knallchargen erst richtig
salonfähig gemacht. Aber nur zu unserem besten.
Denn machen wir uns nichts vor, lieber Rudi: Prohibition hat
nie funktioniert. Und deshalb wurde auch weiter gezockt, an den Märkten. Es war
aber nicht mehr so schlimm, weil manchmal zu gefährlich (Haftung! Und wir haben
die Schlingel schon bei den Hammelbeinen und auch gern dazwischen gepackt, sehr
kräftig gepackt!) – und manchmal einfach nicht mehr ganz so lohnend. Ach ja: Da
wo es ganz arg hätte werden können, haben wir den Zockern einfach gegeben, was
sie in jeder Spielbank kriegten: Spielgeld. Damit konnten sie dann nicht mehr direkt
Unsinn machen.
Viel wichtiger aber war es, ein neues Ziel, ja einen ganzen
Zielhorizont aufzuzeigen. Wo sollte vor allem etwas passieren? Mit
Handy-Kingeltönen wären wir da nicht weit gekommen, obwohl Produkte, die Freude
bereiten, grundsätzlich gute Produkte sind. Und wir mußten dort anfangen, wo
wir uns wenigstens leidlich auskannten.
Und hatte ich nicht schon erwähnt, daß „der Markt“ alleine
gar nichts bewegt? Oder nur in ganz wenigen Fällen einmal. Und irgendwo Geld
„injizieren“, um eine Initialzündung zu geben? Das ist oft genug versucht
worden und war immer nur ein Strohfeuer. Das Risiko des eigenen Fehlens voll
und ganz einzugehen, auch das macht Führung aus. „Den Markt“, Rudi, mußt Du dir
eher als eine Säule, als eine sehr schlanke Säule vorstellen. Mehr als einen
Pfosten, einen Vollpfosten.
Wir haben uns daher auf Autos, Energie und
Kreislaufwirtschaft konzentriert. Autos? Aber die gab es doch schon! Sicher,
Rudi. Sicher gab es schon die großen KDF-Werke in Fallersleben. Und auch im
Süden war da was. Aber wir haben das Auto neu erfunden, wir haben das getan,
was der Kapitalismus niemals getan hat (auch nicht bei der Einführung der Dampfmaschine
und der Eisenbahn). Wir sind ins Risiko gegangen. Das heißt, wir sind
vorausgegangen.
Das neue Auto. Das war das Elektro- und das elektrohydaulische
Auto. Mit Brennstoffzelle als Kraftquelle. Den Wasserstoff dazu haben wir im
übrigen im Sonnenofen gewonnen. Das waren schicke Droschken! Vom Bambino bis
zum Pink Cadillac. Vom Goliath bis zum Gigaliner. Die Dinger fuhren jedem
Verbrennungsboliden davon, konnten mit verstellbaren Rädern auf der Stelle
drehen und waren kinderleicht zu bedienen. Und das schönste an der Sache:
Genauso haben wir die Seeschiffe angetrieben.
Und die Lithiumbatterie? Die sollte doch für die
alteingesessenen Großunternehmen der „Burner“ werden. Ja, ja, die wurde auch
zur Zwischenspeicherung eingesetzt, eher kleinteilig. Auch saturierte Großunternehmen
kann man ersetzen, wenn sie denn den Hintern nicht hochkriegen. Und wir haben
viele nette ausländische Unternehmer in den ersten Jahren kennengelernt.
Und damit war auch das nächste „Dicke Brett“ schon halb gebohrt:
Die Energieversorgung. Denn der Knackpunkt war die Energiespeicherung, nicht
die Erzeugung. Auch da gab es durchaus Möglichkeiten. Keiner der Etablierten wollte
aber da richtig ran. Die wollten lieber alles so lassen wie es war;
beziehungsweise wollten sie nur „großtechnisch“ speichern. Denn dann hätte man
weiter nur bei ihnen beziehen können.
Nun, wir fanden, was sollen wir mit „Stromautobahnen“, die dem
Nils Holgersson mit seinen Gänsen nur im Wege stehen, und die ansonsten nichts
weiter als Kosten verursachen. Bezeichnenderweise wollten all die tollen
Privatisierer auch nie „die Netze“ wirklich haben; also nutzen wollten sie die schon,
aber nicht auf eigene Kosten ausbauen oder instandhalten.Da fanden wir es
besser, schöne kleinteilige Kraftwerke mit Speicherung zu bauen. Wir haben in
einem rasanten Tempo das ganze Land damit überzogen.
Und der, der bei der Speicherung die ersten kleinen,
transportablen Module am Start hatte, der hatte sich seinen Vorsprung auch
redlich verdient (Der wird heute immer noch mit Ehrfurcht „The Bigboss“ genannt). Der konnte seine
Energie dann auch noch weiterverkaufen. Toll, nicht wahr? Das war nämlich einer
(Ja, es war ein Bube, keine Bübin!), der wohl so ähnlich dachte wie einst ein
Rockefeller oder Ford gedacht hatte. Nun, bis kurz vor das alles beherrschende
Monopol haben wir ihn dann auch gewähren lassen. Dann haben wir ihn eingekauft
und zum Denkmal erklärt. War teuer genug, aber irgendwann muß es auch gut sein.
Bevor ich es vergesse: „The Bigboss“ hat sein Handwerk
wirklich verstanden. Der hat seine ersten Produkte massenhaft und billig auf
den Markt gebracht. So geht Markteinführung, wenn man wirklich etwas bewegen
will. Die „neue Energie“ wurde bezahlbar gemacht – und die alte damit endgültig
ins Abseits gestellt.
Und aus der Rohstoffrückgewinnung haben wir ein echtes
Kreislaufgeschäft gemacht. Ein Geschäft! Das heißt, Abfall wurde nicht entsorgt
und sortiert, gegen Gebühren, er wurde verkauft. Und zwar vom sogenannten
Verbraucher selbst. Denn der war ja genaugenommen nur ein zwischenzeitlicher
Verwender. Er hatte den Kauf bezahlt. Und konnte den Rest weiterverkaufen.
Allerdings mußte er dafür Qualität (Sortenreinheit und ähnliches) liefern. Wer
etwas für seine „Reste“ haben wollte, der mußte sich eben anstrengen …
Nein, so natürlich nicht! Jeder mit seinem eigenen kleinen
Schrottplatz! Aber der Hersteller mußte (und wenn er rechnen konnte, dann
wollte er das auch freiwillig, um im Einkauf zu sparen) „seine“ Rohstoffe wieder
zurücknehmen und dies dem Kunden auch vergüten. Oder vielleicht seine Produkte
nur vermieten, wenn sein Kunde halt nicht Eigentümer werden wollte. Haben die
alles untereinander selbst ausgehandelt. Manchmal ging es in den ersten Jahren
zu wie im Basar. War auch ganz schön und hat Spaß gemacht.
Und noch einmal. Zum mitschreiben. Wenn ein Gerät
funktioniert, dann ist es Ware. Wenn es nicht mehr funktioniert, dann ist es
Schrott. Und Schrott ist dasselbe wie Rohstoff. Und Rohstoff ist Ware. Und kein
Müll. Also gibt es auch keinen Müll zu vermeiden. Und wenn man ein Gerät
ersetzen will, weil man ein schöneres haben möchte, dann ist das gut so. Das
alte Gerät kann man auch direkt in den Schrott geben (oder als gebraucht
verkaufen, aber dann ist der Rohstoff weg). Denn der Schrott ist genauso Ware wie das neue oder das
gebrauchte Gerät. Das ist keine Sünde. Das ist das Prinzip des rauchenden
Schornsteins. Und damit Basta. Das sündenbehaftete Mittelalter ist halt doch schon
etwas länger alt.
Jetzt kannst du auch erkennen, Rudi, was noch als
Hintergedanke in dieser Zusammenstellung „Auto – Energie – Kreislaufwirtschaft“
steckte. Wir hatten Öl aus dem Transport-
(außer Flugzeuge, da dauerte es noch etwas) und dem Energiesektor
herausgenommen und damit beim Werkstoffproblem Zeit gewonnen. Diese Zeit
konnten wir in der Forschung gut nutzen, denn Öl gab es nicht mehr so viel. Ach
ja, es wurde im übrigen auch deswegen Zeit, auf diesen Weg einzuschwenken,
weil die Schlauen unter den Ölförderern schon längst für die Zeit danach
gedacht hatten. Aus der Energieerzeugung konnte man recht schnell das Öl
abziehen. Auf Öl als Werkstoff zu verzichten war da schon schwieriger.
Das hört sich alles zu leicht an? So kann das nicht gewesen
sein? Rudi, denke einmal an die Schreibmaschine und den Dieselmotor. Die
Schreibmaschine war tot als der Schreibcomputer erfunden war (also vor seiner
Markteinführung schon). Jeder, der versucht hat, die Schreibmaschine zu
erhalten (zu „faceliften“ wie man so sagte, oder sie mit Zusatznutzen und „Gadgets“
„upgraden“ wollte), der war schon hingefallen, bevor er den ersten Schritt getan
hatte. Und der Dieselmotor hatte die Dampfmaschine als Schiffsantrieb schon
abgelöst, als er die ersten Minuten am Stück durchgehalten hatte, im Schuppen
vom Rudolf.
So ganz nebenbei bemerkt: Es waren noch nicht einmal Prämien
und ähnliches nötig. Allein die Aussicht, wieder etwas schaffen zu können, auch
ganz persönlich neue Ziele erreichen zu können, langte völlig aus, um unser Land
in Drehung zu versetzen. Die Sache mit der intrinsischen Motivation ist doch
eine feine Erfindung vom Lieben Gott, nicht wahr?
Aber dann gingen doch die ganzen Arbeitsplätze verloren …?
Ja, es gingen all die Arbeitsplätze verloren, die nicht mehr gebraucht wurden.
Unsere Autos mit Einzelradantrieb hatten zum Beispiel keine herkömmlichen
Bremsen und Getriebe mehr. Na und? Sie bestanden halt aus anderen Komponenten.
Wir haben nicht einfach mutwillig alles umgekrempelt, um der
„heiligen Reinheit“ willen. Ich habe Dir doch die Sache beim Thema Öl erklärt.
Und genau das macht eben Führung aus: Neues vorwegnehmen können oder anders
gesagt, eine Vision zu haben (Visionen sind endgültig seit der
Großversuchsreihe des Jahres 2047 offiziell keine Krankheit mehr).
Und was war mit den Steuern und der Rente und …?
Wir haben das gesamte Steuersystem nur auf die
Mehrwehrtsteuer gestützt, worauf es eigentlich ohnehin schon ruhte; das sollte
nur keiner wissen. Die Einkommensteuer (auch die Körperschaftssteuer) wurde in
der „Vorauszahlungvariante“ einfach abgeschafft. Dabei mußten wir schon ein
bißchen länger nachdenken. Denn bis dahin war sie eine Sache der
„ausgleichenden Gerechtigkeit“, die Einkommensteuer nämlich. Hat aber erstens
nicht funktioniert und stand zweitens jetzt im Weg. Die Menschen brauchten mehr
zur Verfügung. Und die Selbstdefinition „Ich bin aber Steuerzahler und ich will
…, sonst halte ich die Luft an …“ konnte einfach keiner mehr hören.
Auf restlos alles, was gewerblich gekauft und verkauft
wurde, wurde die gleiche Mehrwertsteuer erhoben. Im übrigen, wenn ich mich
recht entsinne, 20 oder 22%; das war
schon schön europäisch. Auch auf Export-
und Importgüter. Wer bis dahin im Export damit spekuliert hatte, ohne oder mit
geringerem Steuersatz operieren zu können, der mußte halt sehen, wo er bessere
Preise bekam – oder etwas abgeben. Auf jedes Einzelschicksal kann man nun
wirklich nicht immer Rücksicht nehmen.
Eingesammelt wurde weiterhin über die Unternehmen, die aber
für ihre Dienstleistung sogar vergütet wurden. Das kam bei neuen Unternehmen
aus dem Ausland, die sich hier ansiedeln wollten, sogar ganz gut an. Und der viel
geschmähte bürokratische Aufwand war minimal, denn die reine Auflistung des
Verkausferlöses und der Einkäufe reichte ja aus. Rechnen mußten die Finanzbeamten
selber. Dafür wurden sie schließlich bezahlt.
Ach ja, ganz wichtig: Unsere (janusgesichtigen)
Steuerbeamten wurden nach ganz klarem Vorbild ausgesucht. Sie entsprachen dem
altrömischen Vorbild „Incorruptus“ (Ganz große Literatur!). Sie gingen in die
Betriebe und holten sich die Daten ab. Sie waren freundlich und halfen bei
Fragen. Und vor allem waren sie klein und gemein. Sie waren erbarmungslos
beamtisch. Sie kannten nicht den geringsten Skrupel, einem kleinen
Möchtegernbescheisser die Hammelbeine … Und als Vorgesetzte kriegten die nur
die doppelt kleinen und gemeinen ihrer Zunft.
Wir haben auch die Vermögens(zuwachs)steuer (für jeder
natürliche und juristische Person) neu definiert. Aber mehr als Belohnung
konzipiert. Jeder mußte nach wie vor zum Jahresende seine Steuererklärung
abgeben. Wir haben aber für die ersten 5% Vermögenszuwachs eine kleine Belohung
gezahlt (Du kannst dir gar nicht vorstellen, Rudi, was da für Geschichten
erfunden wurden; die waren als Groschenroman ein richtiger Renner). Danach kam
dann eine sehr moderate, allerdings progressiv steigende Besteuerung des
Vermögenszuwachses.
Und wer meinte, über Auslandstöchter oder ähnlich seinen
Zuwachs kleinhalten zu wollen, der hatte es nicht so ganz verstanden. Der, der
nichts weiter als die 5% Zuwachsprämie mitnehmen wollte, der war ein
„Stagnierer“, ein Wachtumsverweigerer sozusagen. Der durfte das genau zweimal
machen – zum ersten und zum letzten Mal.
Und jeder, wirklich jeder mußte für seinen Zuwachs auch die
Aufwendungen korrekt angeben. Kein Arbeiter konnte also Wegekosten weglassen,
nur um seine 5%-Prämie zu bekommen. Spaß beiseite. Seit den 1920er Jahren waren
Leute damit beschäftigt gewesen, zu entscheiden, ob auch Privatpersonen, insbesondere
Arbeiter, da keine Bürger (oder so ähnlich), steuerlich relevante Aufwendungen
hätten oder nicht. Hatten sie.
Und wie sollte dann der Zuwachs aussehen? Wer zum Beispiel
ein Achtel Wertverlust seines Autos durch zwei Achtel Spareinlage ersetzte, der
hatte doch mehr getan, als nur den Wertverlust ausgeglichen. Oder? Das wurde
halt belohnt. Arbeitnehmersparzulage einmal anders.
So gab es weiterhin etwas, um sich an seinem Staat reiben zu
können. Das war und ist sehr wichtig. Auf die Steuereinnahme an sich kam es
gar nicht so an. Wichtig war, daß jeder Vermögen auch erwerben wollte. Ach ja.
Damit das alles von Anfang an Spaß machte, haben wir die Erbschaftssteuer abgeschafft.
Der Erbe hatte eben plötzlich mehr im Vermögen. Nur die Belohnung für die
ersten 5% Zuwachs bekam er nicht. Das wäre für die vielen Erbonkel und -tanten
zu gefährlich geworden.
Nur die, die in ihrer Erklärung keinen Vermögenszuwachs
nachweisen konnten, die hatten ein Problem (so wie die „Stagnierer“ oben). Die
wurden einbestellt und mußten sehr genau argumentieren. Stellte sich zum
Beispiel heraus, daß ein Unternehmen Vermögen verzockt hatte, dann bekamen die
noch ein Jahr Galgenfrist. War es danach immer noch nicht auf den Pfad des
steigenden Vermögens zurückgekehrt, dann wurde „die Bude dichtgemacht“. Und der
„Privatschrat“ bekam eine kleine Strafe, damit er wieder ein braver
Vermögensbauer wurde. Und weißt Du was, Rudi, mit den Banken haben wir das genauso
gemacht: Kohle verzockt? Bude zu!
Und wovon hat dann einer die Kitas bezahlt? Und wer bezahlte
die Rente und die Sozialversicherungen Und der schöne Staat, mußte der denn
nicht jetzt kräftig sparen? Der Staat direkt am Wirtschaftsgeschen, denn mehr
als Mehrwertsteuer kriegte er ja im wesentlichen nicht mehr! Du Schrat mit
Ohren! Das geht doch gar nicht …!!!!!!!!!
Aus! Mein lieber Rudi, hier schreibt nur einer. Und das bin
ich. Du kriegst jetzt keine M und Ms, hier wird nicht genascht. Du kriegst hier
L und L: Lesen und Lernen.
Das ging alles. Ganz gut sogar. Zuerst einmal war dabei
wichtig, daß der Staat gezwungen war, sich konform zur Wirtschaftsentwicklung
zu verhalten. Er mußte, anstatt wahlenfreundliche „Initialzündungen“
auszugeben, auf strategische Entwicklungsfelder setzen. Das war in den ersten
Jahrzehnten die gesamte Bandbreite der Werkstoffe. Das war wesentlich. Nicht
mehr die IT-Branche. Und da „der Markt“ so etwas von allein ja nicht macht, hat
das unser Unternehmerstaat halt getan. So wurden zum Beispiel die „Seltenen
Erden“ weder „erobert“, noch wurde nach ihnen im Asteroidengürtel
„prospektiert“ (Das hatten ernsthaft welche vor!) – sie wurden „recycelt“, ja
das auch, und ersetzt. Insbesondere aber wurde am Herstellungsprozess, am
eigentlichen Gewinnungsprozeß der an sich doch gar nicht so seltenen „Seltenen
Erden“ konzentriert gearbeitet. Alle „Lenkungsmaßnahmen“ wurden für die
Entscheidungsträger halt etwas schweißtreibender – hinter der Stirn.
Unser Unternehmerstaat war dann auch der erste, der verdienen
durfte. Wollten sich danach (oder auch von Anfang an) andere beteiligen, so
waren sie willkommen. Aber die meisten wollten immer erst das Anfangsrisiko
abwarten. Also bekamen sie auch die Krümel, nicht den Kuchen. Im Ernst: Es war
nicht ganz so schlimm Nach einer gewissen Zeit lief diese
„Kooperationswirtschaft“ schon ganz gut. Allemal besser als irgendwelche
Lizenzen zu vergeben, einmal Geld einzunehmen und anschließend den Dreck auf
Staatskosten wegzuräumen. Es war halt nur ein wenig anstrengender. Aber „Ohne
Schweiß kein Preis“, wie ein altes Sprichwort sagt.
Es wurde natürlich auch kräftig gespart, richtig Verzicht
geübt, asketisch geradezu – genauer: Es wurden all die liebgewonnenen
gutbürgerlichen Pfründe abgeschafft. All die vielen Verwaltungspositiönchen und
Subventiönchen, die es den Gutbürgerlichen und ihrer Brut (Die hatten unter
„Staatsbürger“ immer nur „Erbbürger“ verstanden!) so leicht gemacht hatten. Was
glaubst Du eigentlich, was für ein enormer Pensionsbatzen nach den ersten
dreißig Jahren aus dem Etat verschwunden war.
Ja, es hat seine Zeit gebraucht, die gutbürgerlichen
„Altlasten“ (seit den 1980ern ein geflügeltes Wort) abzutragen. Da zahlte es
sich aus, daß wir die Finanzmärkte hatten überleben lassen. Unser Staat hat
gegen die gezockt, daß einem schwindelig wurde. Ja und! War das vielleicht
verboten. Hatten die „Schlaraffenland-Träumer“ etwa als einzige diese
Möglichkeit? Also ab mit den vielen Pensionslasten in irgendeine Bad Bank ,
auszahlen und warten, bis die „Anspruchsinhaber“ davongegangen waren. Bloß
nicht mehr darüber nachdenken.
Bloß nicht mehr darüber nachdenken … Auch nicht über den
Erhalt dahinsichender Unternehmen oder Branchen. Sie sogar mit Beifall
erheischenden Maßnahmen über Wasser halten wie die landschaftspflegenden und
wählenden Bauern. Perspektiven aktiv entwickeln und den Menschen neue Wege zu
ebnen, aktiv zu ebnen – nicht nur bedeutungsvoll darauf zu weisen –, das war
die Aufgabe des Staates. Hat er auch von Generationswechsel zu
Generationswechsel (seiner treuen Bediensteten) immer besser geschafft.
Ja, schon gut, ich weiß, Rudi! Bei genauem Hinsehen war der
Staat, das Land damals schlicht und ergreifend pleite. Genauso benahmen sich
die gutbürgerlichen politischen Führer auch. Sie rechneten immer eine Gesamtwirtschaftsleistung
zusammen, die den ganzen Finanzsektor mit einbezog. Dort wurden aber gar keine
Werte geschaffen. Das war so wie es „Manager“ immer tun, um bei ihrer Hausbank
gut dazustehen, um eine bella figura zu machen. Dazu erfanden sie stets „die
Zukunft“ neu, immer wieder, so mit Licht am Ende des Tunnels, neue Chancen
anpacken und es wird schon werden, wenn wir alle brav in die Schule gehen. Es
ging aber immer nur darum, frisches Geld locker zu machen. Ihre
„Schuldenbremsen“mit 3% Neuverschuldung bei 5% Wachstum (Hallo!!!!!!!!!) waren
eine einzige Lachnummer. Aber, wie gesagt, es war schon von Vorteil, die
„Schlaraffenland-Träumer“ am Leben zu halten. Als Bad Banker waren die eine
Wucht in Tüten. Unser Insolvenz-Planverfahren in Eigenverantwortung hat
funktioniert, auch wenn es deutlich länger als zwei Jahre dauerte. Wie sonst
hätten die Gläubiger der Gutbürgerlichen wieder an ihr Geld kommen sollen. Nur
ihr „Neugeschäft“ lief halt nicht mehr so wie gewohnt.
Noch ein kleiner Einschub zum „Unternehmerstaat“. Vor
einhundert Jahren sind auch solche Sachen passiert: Als eine neue
Identitätskarte (Personalausweis) eingeführt wurde, sollte man damit auch im
Internet identifizierbar sein. Die Software dazu ließ noch eine Weile nach
Einführung der Karte auf sich warten. Eine Nachfrage beim zuständigen
Ministerium wurde mir so beantwortet: „Das regelt der Markt“. Natürlich gegen
irgendeine Bezahlung. Eine solche „Abkochnummer“ gab es kurz darauf auch bei
der elektronischen Steuererklärung. Da gab es Sicherheitsstufen bei den
Zugangsprogrammen, die unterschiedlich viel kosteten. Und wenn einer
nachfragte, ob „das auch alles korrekt sei“, so bekam er eine professurale
Antwort: „Ja, das ist alles marktwirtschaftskonform und so weiter und so weiter“
(Diese Antworten waren wohl eher für die ehemaligen DDR-Bürger gedacht gewesen,
damit die auch mit Stempel und Testat wußten, woran sie waren).
All das hatte mit unserem Unternehmerstaat nichts gemein. Da
ging es nur ums Abzocken, um das ganze marode System am Laufen zu halten.
Genauso wie bei den Privatisierungsarien. Da wurden sozusagen „Lizenzen zum
Ausbeuten“ vergeben, um sich „die Märkte“ gewogen zu halten. Das war wirklich
die lebende Ferengi-Gesellschaft: Wenn man dort vor der Audienz beim großen
Nagus zur Toilette wollte, dann mußte man schon für die Erlaubnis zu fragen, wo
die denn sei, einen Streifen Latinum bezahlen. Jetzt aber ’mal ehrlich: Wer wollte schon in
einer Filmkulisse leben!
So, und jetzt noch zum Sozialsystem. Der Bismarck wurde
ersetzt durch die alte aber umso treffendere Weisheit „Der Teufel scheißt auf
den größten Haufen“. Irgendein Bundes-Herzog hatte einmal gemeint, eine
beitrags- oder staatsfinanzierte Rente auf eine kapitalgedeckte Basis zu
stellen, das würde nichts bringen. Das würde ja Jahrzehnte dauern. Nun, bei
jedem Einzelnen sollte es nach der Meinung der Gutbürgerlichen aber
funktionieren, oder riestern wie die sagten. Hat es natürlich nicht.
Die Lösung war ein Haufen. Ein richtig großer Geldhaufen
(für Renten- und Krankenversicherung), der den Rest der (Finanz)-Welt so
richtig aufmischen konnte. Unsere speziell geschulten Leute aus den Reihen der
„Incorruptii“ haben den I-Babies (vormals Investment-Buddies) so richtig in den
Hintern treten dürfen. Die haben diese Nasen abgekocht, was das Zeug hielt.
Deren Haufen war so groß, die konnten hebeln ohne Fremdgeld … Nein! Die waren
ganz brav. Die hatten aber schlicht und ergreifend aufgrund der Haufengröße
stets die Nase vorn. Und, ich gebe es ja nur ungern zu: Wir haben das einfach
abgekupfert. Iregndwo im schwedischen Norden. Ich nenne aber keine Namen. Na und?
Besser sauber kopiert als schlecht erfunden!
So, und nun ist es an der Zeit auch diese Katze aus dem Sack
zu lassen: Die Unternehmen wurden komplett aus dem ganzen Sozialsystem
herausgenommen. Die sollten Mehrwert schaffen, sonst nichts. Und wenn sie das
nicht mehr konnten, dann wurden sie begraben. Das waren nämlich die
eigentlichen „Chinesichen Verhältnisse“, die alle immer so herbeigesehnt
hatten: Nicht die Diktatur der Unternehmen, sondern die Diktatur über die Unternehmen.
Spaß gemacht. War ein Witz. Aber als alles beherrschende
„Klasse“ waren die Unternehmen so richtig „out“. Die durften Geld verdienen, bis
es ihnen zu den Ohren herausquoll. Ihr Rat und ihre Ideen waren durchaus
gefragt. Sie wurden für gute Leistung auch geachtet. Aber auch nicht mehr. Die
Verbände existieren schon lange nicht mehr.
Die Spieler auf dem Feld: Leistung bekam ihren Wert
Das Ziel allen Wirtschaftens wurde, ich sage es noch einmal,
das Schaffen von Werten. Dazu gehörten die Unternehmen und die Arbeiter. Den
„Arbeitgeber“ und den „Arbeitnehmer“ gibt es allerdings nicht mehr. Die
Verbände verschwanden und die Gewerkschaften auch. Es ging nicht mehr darum,
sich „hochzudienen“, „klein anzufangen“, „dankbar dafür zu sein, überhaupt noch
eine Stelle zu bekommen“ oder „wie der Vater, das ganze Berufsleben in einem
Betrieb zu verbringen (der Sicherheit wegen)“. Es ging beiderseits ums
Geldverdienen. Was zählte, war die Leistung – und die hängt nun einmel vom Lohn
ab. Und ansonsten von gar nichts.
Die Unternehmen wurden „endlich befreit“: von Sozialabgaben
und natürlich auch von der Gewerbesteuer. Der Grund dafür liegt in einem
schönen alten Sprichwort verborgen: „Wer die Musik bestellt, der muß sie auch
bezahlen“; was umgekehrt heißt: „Wer nichts bezahlt, der entscheidet auch
nicht, welches Stück gespielt, ja ob überhaupt gespielt wird“.
Die Unternehmen mußten allerdings Abgaben leisten und
natürlich Vorschriften zum Unfallschutz und zur sonstigen Sicherheit erfüllen.
Wer also meinte, ich gehe jetzt nach Deutschland und hole mir aus dem Kral ein
paar Leute. Die lasse ich dann mit bloßen Händen im Dreck wühlen, weil ich der
große Massa bin, der merkte gleich bei der ersten Anfrage, daß er hier falsch
war, vollkommen falsch, lebensgefährlich falsch.
So, nun genauer zu der Geschichte mit den Abgaben, Das war
ein ganzer Katalog von „Aufwandsentschädigungen“, die hier ein Unternehmen
leisten mußte. Da war von der Infrastrukturabgabe „Straße und Schiene“ bis zur „Entschädigung
für Luftverschmutzung durch Zigarren rauchendes Management“ alles drin. Auch
der wirklich größte Unsinn. Aber die Unternehmen konnten das natürlich
vermeiden.
Denn das Ziel war ein ganz anderes: Die Unternehmen sollten
saubere, technisch einwandfreie und lohnende Betriebe hinstellen.
Hinterhofbuden wollten wir nicht. Und das haben sie dann auch getan. Sie haben
schön alle „Auflagen“ erfüllt, um sich von möglichst vielen Abgaben zu
befreien. Und wer das ganz schnell und ganz gut machte, der bekam auch noch
Gutschriften für seine Vermögenszuwachssteuer.
Das alles funktionierte wie das Geschäft mit Rabatten:
Vorher draufschlagen und dann Rabatte geben. Das ist kein „böser Trick“, Rudi.
Menschen sind so. Sie wollen ihr Erfolgserlebnis haben. Und damit sie über den
Ochser kommen, ohne ihn umzureißen, muß man ihn halt erst einmal aufstellen,
den Ochser. Das weiß doch jeder Springreiter. Und selbst wenn ich das ganze
Land mit Handzetteln pflastern würde, um über diesen „Trick aufzuklären“ – er
würde immer wieder funktionieren. Schön, nicht wahr?
Insbesondere für neue „Player“ war das alles gedacht. Ich
habe Dir ja schon gesagt, die alten (Erben-) Unternehmer hier im Lande, die
waren für uns gar nicht mehr so wichtig. Die drohten ja ohnenhin damit,
wegzuziehen. Nun, dann sollten sie halt gehen. Hauptsache, sie standen nicht
mehr im Wege.
Der wichtigste Punkt aber war, daß die Unternehmen keinen
Zugriff mehr auf die Menschen bekamen. Der „Feudalistische Machtfaktor“ wurde
sozusagen aus unserer Gesellschaft herausoperiert – mit chirurgischer Präzision.
Denn wer keinen Zugriff auf die Menschen hat, der beherrscht sie auch nicht.
Die Arbeiter organisierten sich in Genossenschaften, sie
wurden dadurch selbst zu Anteilseignern eines Unternehmens. Darüber
„verliehen“, genauer: vermarkteten sie sich selbst. Das Unternehmen „stellte
nicht mehr ein“. Es kaufte Leistungen ein. Dafür mußte es bezahlen. Dafür
mußte es gut bezahlen. Selbstverständlich haben wir auch da Mindeststandards
eingeführt. Es ging darum, Geld zu verdienen, nicht darum, Geld zu wechseln.
Damit war auch das „Reichenpoblem“ gelöst. Nachträgliche
Almosen brauchte niemand mehr zu erbetteln, wie man das damals immer mit dem
Hinweis auf „Eigentum verpflichtet“ versuchte. Bezahlt wurde vorher. Wie groß
auch immer die Gewinne der Unternehmen wurden, Macht konnten sie damit so
leicht nicht mehr ausüben, denn niemand war auf Gedeih und Verderb darauf
angewiesen. Politische Führung ist halt doch so etwas wie „Vorausschauende
Fahrweise“.
Na schön, Du hast recht, Rudi! So „rein“ haben wir das
natürlich nicht gemacht. Mancher Unternehmer, vor allem der Einzel- oder Familienunternehmer,
braucht halt seinen Hofstaat, insbesondere seine Hofnarren. Und einige geben ja
auch recht gerne und recht gut den Narren ab. Wir haben daher schon noch einen
kleinen Prozentsatz an sogenannter Stammbelegschaft aus sogenannten
Fachkräften. Ja doch, es gibt mittlerweile gut funktionierende Fachschulen für
Hofnarren, denn: „Ein bißchen Spaß muß sein, dann ist die Welt voll
Sonnenschein!“
Jetzt wieder ernsthaft: Die Genossenschaften waren auch Kern
der ganzen Arbeitslosen- und Unfallversicherung, auch einer zweiten
Rentenversicherung. Daher waren diese Genossenschaften auch nicht gerade klein.
Auch hier galt das „Prinzip des großen Haufens“.
Und sie sorgten durch Selbstkontrolle dafür, daß jeder ihrer
Genossenschafter schnellstmöglich wieder ans Arbeiten kam. Allerdings an ein
profitables Arbeiten. Aus purem Selbsterhaltungstrieb (Sie dachten eben rein
unternehmerisch!) machten sie nur die Dinge, die auch Profit brachten, die ihnen
selbst Profit brachten.
Die Genossenschaften „machten“ im übrigen auch die
berufliche Ausbildung. Ihre Genossenschafter kannten die betrieblichen Belange
nach kurzer Zeit besser als die Unternehmer selbst. Sie wußten ganz genau, wann
sie Leerlauf hatten und warum. Sie wußten ganz genau, welche Arbeit verbessert
werden konnte und wie. Sie berieten ihre Auftraggeber sogar. Allerdings: Guter
Rat ist teuer. Aber das ist er schon seit Anbeginn der Zeit.
Und die Umkehr der Machtverhältnisse zwischen diesen beiden
Polen (“Kapital und Arbeit“), die war nicht so neu: Jeder von den „Größten
Outsourcern aller Zeiten“ damals hatte ganz schnell erfahren müssen, daß er
selbst das überflüssige Glied in der Kette war. Macht steht eben immer auch auf
einem sehr sumpfigen Untergrund.
Ach ja. Wer meinte, ich leihe mir jetzt einmal ein paar
Leute, mache einen guten Vertrag – und schicke dann nach der halben Laufzeit
alle wieder heim, der war ein wenig auf dem Holzweg. Der bekam solange mit dem
Handelsgesetzuch den Hintern verdroschen, bis er lachte. Die Dummdreisten sterben
halt nie aus.
Noch eine kleine Ergänzung dazu, Rudi. Unsere
Gefängnisinsassen und unsere Behindertenwerkstätten sind im übrigen genauso
genossenschaftlich organisiert. Diese beiden Gruppen sollten damals möglichst
billig arbeiten, um „der Gesellschaft etwas zurückzugeben“. Wir fanden, daß
verurteilte Straftäter den Schaden, den sie angerichtet hatten, wiedergutmachen
sollten. Sie sollten ihre Opfer entschädigen. Sie sollten tüchtig arbeiten,
aber zu ordentliche Löhnen. Und die ordentlichen Löhne galten auch für die
Behindertenwerkstätten. Die sollten Stolz auf ihre eigene wirtschaftliche
Leistung sein können. Alles andere wäre im übrigen auch reine
Wettbewerbsverzerrung gewesen. Es konnten ja nicht alle Unternehmen dort
arbeiten lassen. Und mit dem Thema Wettbewerb, lieber Rudi, nehmen wir es sehr
genau.
Noch etwas zu dem Wertgedanken, Rudi. Vor hundert Jahren gab
es viele, die wollten Sozialtickets für die Armen einführen, für Bus und Bahn.
Oder die wollten gebührenfreie Gratiskonten bei den Banken. Almosen, lieber
Rudi, helfen nur denjenigen, die sie geben. Bei uns heute kostet
selbstverständlich ein Bankkonto Gebühren, dafür sind aber auch ab dem ersten
Pfennig (Entschuldigung!!!!!!!! Cent oder wie die Dinger jetzt auch immer
heißen!) Einlage Zinsen fällig. Und wer verhandeln möchte, der kann doch gern
auf Zinsen für xyz,00 verzichten, wenn er dafür keine Gebühren zahlen muß. Und
wenn dann eine Bank meint: „Ja, wo sind wir denn! Hier wird doch nicht
verhandelt. Hier wird gehorcht!“ Nun, dann sollte sich diese Bank ein neues
Land suchen. Hier bei uns hat sie keine Zukunft. So geht das mit dem
Wertgedanken.
Und was war mit der Demokratie und der Wählerei und dergleichen?
Wir Waldschrate wären sehr gern zum Tingplatz in den Wald
gegangen. Wir hätten sehr gern mit den Schwertern gegen die Schilde geschlagen
oder sehr gern ausgiebig gemurrt. Das war aber schon allein deshalb nicht
praktikabel, weil stets die Frösche dazwischengequakt haben. So hätte nie einer
gewußt, ob wir zustimmend geklappert oder ablehnend gemurrt hätten. Und uns
wäre es auf Dauer auch ein wenig zu kalt geworden.
So blieb uns doch gar nichts anderes übrig, als eine wirklich
funktionierende repräsentative Demokratie auf die Beine zu stellen. Ja, Rudi,
eine repräsentative Organisationsform. Dazu brauchten wir aber einen neuen
Typus Abgeordneten und eine neue Basis der Selbstorganisation. Mit letzterer
will ich anfangen.
Der Föderalismus alter Ordnung, so will ich das einmal
benennen, der war genaugenommen doch nichts weiter als die Wiederauferstehung
der Fürstentümer und sonstigen „Herrschaften“ in der Restauration (im Anschluß
an den Napoleon). So wurde das auch von den Bürgerthalern gesehen. Ich erinnere
mich noch sehr genau an einen meiner Bürgermeister, der sich selbst und seine
Kommune lediglich als unterste Stufe der Obrigkeit verstand. Und als solche
konnte man natürlich selbst nicht allzuviel machen und so weiter und so weiter
…
Wir haben die Selbstorganisation ganz einfach auf das
gegründet, was die Menschen sowieso im Kopf hatten: Sie fühlten sich einer
bestimmten Region oder Landsmannschaft zugehörig. Sie verstanden sich als
Franken oder Oldenburger, als Düsseldorfer oder Holsteiner oder als was auch immer.
Diese Regionen waren sogar sehr genau abgrenzbar, sprachlich zum Beispiel. Und
sie hatten eine feste historische Verankerung. Darauf haben wir aufgebaut.
Diese Regionen verwalteten sich selbst. Immer nach der
gleichen Struktur: Repräsentantenhaus nach Kopfzahl, von dort gewählte
Verwaltung und von allen gewähltem, na sagen wir einmal „Vorsteher“. Und der
war tatsächlich der „Chef“. Und das heißt, der war verantwortlich. Und
ansonsten war der gar nichts. War der schlecht, dann flog er ’raus. War er gut, dann war es gut
so.
Dasselbe galt auch für die Region an sich. Florierte sie,
dann war es gut, war sie zu klein, zum Beispiel, und florierte deswegen nicht,
na dann fusionierte sie halt. Hat manchmal gedauert, aber in der ganzen
Struktur, in diesem lebenden Regionen-Gewebe ist schon Leben drin gewesen und
ist es immer noch. Und das ist auch richtig so.
Über dieses lebende Gewebe noch irgendwelche, erstickenden
Obrigkeits-Strukturen (ob Regierungspräsidium, ob Kreis, ob Land oder ob
sonstwas) zu legen, war einfach nur überflüssig. Niemand brauchte das. „Flache
Hierarchien“ hieß das. Die Regionen bekamen einfach einen Anteil (einen recht großen,
um genau zu sein) der Mehrwertsteuer (Das war auch für sie die Quelle und sonst
gab es keine!) in die Hand, einen weiteren aufs Sparkonto („Spare in der Zeit,
dann hast Du in der Not!“). Und fertig war die Angelegenheit.
In jeder Region gab es dazu das kleine, bescheidene und
wenig kostende „Staatshaus“ mit den Incorruptii drin. Und die haben nicht
geknausert. Die haben schon aufs Geld aufgepaßt, aber die haben auch ihren
Beratungsauftrag ernstgenommen. Zum Beispiel war dies wichtig, wenn eine
Region unbedingt noch größer und schöner, noch bunter und lauter werden wollte
als die Nachbarn. In aller öffentlichen Deutlichkeit haben die Incorruptii dann
die Bevölkerung darauf hingewiesen, im Quartalsaudit (kommt gleich noch
genauer). Das reichte im allgemeinen aus, die Kirche im Dorf zu lassen.
Vielleicht hast Du, lieber Rudi, etwas von der „Bewegung der
Kleinkleckersdorfianer“ gehört. Das war eine Sekte bei uns Waldschraten. Die hatten
ihren Wald so lieb, die wollten drin bleiben. Auf einer kleinen Lichtung. Das
war ihre heile Welt. Je kleiner, je besser. Nun, denen mit einer strengen Gebietsreform
beizukommen, wäre nie gelungen. Ihre Vorsteher sind dann, zunächst konspirativ
und heimlich zu den anderen Regionalchefs gegangen, als ihre Lichtungen
wirklich zu klein geworden waren. Alle anderen haben so getan, als wüßten sie
nichts. Und plötzlich waren auch die einer anderen Region beigetreten. Einfach
so. Lessons learnt: Schön leise und gelassen nach Lösungen suchen. Und Menschen
die Chance geben, ihr Gesicht zu wahren.
Einzig und allein eine Struktur wurde „übergestülpt“: das
Netz der Wahlkreise für die Repräsentanten des ganzen Landes (nach Kopfzahl).
Die wurden direkt gewählt. Das heißt, es war egal, ob die einer Partei
angehörten oder nicht. Es war auch egal, ob die im Staatsrepräsentantenhaus
Fraktionen bildeten oder nicht. Das hatte eigentlich nur den einen Grund: Sie
sollten sich nicht hinter denen verstecken können, nicht hinter Partei noch
hinter Fraktion. Bei uns wurden nämlich sehrwohl Personen gewählt, Menschen,
von denen sich jeder nicht nur die gleichen Überzeugungen wir die eigenen
erwartete, sondern auch einen manchmal ganz persönlichen Vorteil. Das war nicht
weiter schlimm, das war einfach nur menschlich.
Die Staatsregierung, die gesamte Regierung wurde direkt
gewählt, sie hatte auch großen Spielraum. Die Repräsentanten hatten die
Pflicht, diese, für sie „fremde“ Regierung zu „beaufsichtigen“. Sie konnten die
Regierung nicht absetzen. Sie konnten aber einen Volksentscheid veranlassen.
Das Volk war dann gezwungen, über den Verbleib der Regierung zu befinden.
Ansonsten hatte die Regierung durchzuhalten und ihre Arbeit zu tun.
Zurücktreten durfte nur, wer den Kopf unter dem Arm hatte.
Regierungsverantwortung ist bei uns zur Regierungspflicht geworden.
Jeder Repräsentant (Region oder Staat) mußte sich in jedem
Quartal einem Audit unterziehen. Das war eine dreitägige Veranstaltung,
öffentlich bis in den letzten Winkel übertragen, auf der er Rede und Antwort
stehen mußte. Jedermann gegenüber. Dafür wurde er bewertet. Damit wurde ein
Leistungsnachweis erstellt, der darüber entschied, ob er wiedergewählt werden
konnte. Und wenn es ganz schlecht für ihn lief, dann wurde er halt „freigestellt“.
Verstehe mich richtig, Rudi. Der Repräsentant war dem Gesetz
und seinem Gewissen gegenüber verantwortlich. Genau diese Gewissensentscheidung
aber mußte er auch verteidigen können.
Das ganze lief natürlich über Internet, wie denn sonst.
Jeder konnte da seine Punkte vergeben. Zum „Freistellen“ war aber schon ein
Quorum nötig, und nur die Wahlberechtigten konnten das. Punkte vergeben an sich
konnte aber jeder.
Und der Typus des Repräsentanten? Selbstverständlich war das
ein Berufspolitiker. Und klar hatte der eine Partei hinter sich. Wer sonst
hätte die ganze „Auditerei“ auf sich genommen. Allerdings mußte es schon jemand
sein, der ein gewisses Format hatte, was sich durch das Auditsystem bei vielen
auch erst entwickelte, entwickeln konnte, entwickeln durfte (Wir wurden nämlich
immer geduldiger und unaufgeregter, was dann auch die Pleite der BILD-Zeitung sehr
schnell herbeiführte). Sich im Schatten einer Partei nach oben schleichen oder
als Parteisoldat, daraus wurde ja nichts, der persönlichen Verantwortung im
Audit wegen. Leitungsfähigkeit war schon vonnöten. Die vor hundert Jahren
üblichen „Kollegen der Parlamentswerke GmbH & Co. KG“, die ihre
Legislaturperioden verlängern wollten, um besser „vernetzt“ zu sein, die kamen
nicht mehr weit.
Was sagst Du, Rudi? Die BILD-Zeitung kennst Du gar nicht.
Die findest Du im Museum. Sie steht mit zwei anderen Zeitungen dort in einem
gasdichten Behälter: „Der Stürmer“ und „Völkischer Beobachter“, Gasdicht ist
der Behälter, damit kein Museumsbesucher durch den Pesthauch, der von den
Exponaten ausgeht, Schaden nimmt. Ist so etwas wie der Fluch des Pharao.
Hinzu kam für unseren Unternehmerstaat noch ein jährliches
Audit für die großen Projekte. Jedes Jahr wurde einmal über den Fortschritt
befunden. Und es ist durchaus vorgekommen, daß Projekte abgebrochen wurden. So
wurde einmal eine ganze Reihe von Großflughäfen, die den Luftverkehr eigentlich
durch Bündelung reduzieren sollte, nach drei Jahren wieder „gekippt“. Das lief
nicht so wie es hätte sollen. Wer lernen will, der muß eben auch Lehrgeld
bezahlen.
Gewählt wurde regelmäßig alle zwei Jahre: einmal die
Regionen für vier Jahre, einmal im Staat für vier Jahre (einschließlich
Regierung). Und einmal im Quartal halt die „Überprüfung des Leistungsstandes“.
Hier war und ist immer etwas los.
Die siehst, Rudi, es wurde keineswegs einfacher. Weder für
die Gewählten, noch für die Wähler. Aber das ist nun einmal so: „Ohne Schweiß
kein Preis“. Die Zappeligen unter den Repräsentanten, die immer nur auf das
nächste Audit hinarbeiteten, die überlebten selbst die erste Runde nicht. Und
die Wähler, die meinten, mit dem Dartpfeil auf die Scheibe werfen, das wäre es
gewesen. Nun, die waren, was sie schon immer waren: lustige Zeitgenossen.
Mitentschieden haben die gar nichts. Am leichtesten tun sich bei uns die
Gelassenen. Sie sind immer aufmerksam dabei, sie verfolgen das Geschehen. Aber
sie überschlafen auch ihre Entscheidungen. Und wenn sie meinen, es wäre besser,
nicht zu entscheiden, dann tun sie eben genau das.
Ein sehr wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang noch die
Informationsbörse. Die haben wir jedem Menschen zugänglich gemacht, per
Internet bis ans Bett. Da war wirklich alles drin. Jeder konnte zu jeder Zeit
auf alle Informationen zugreifen (Früher hieß das einmal Kaizen, war gedacht
für den Industriebetrieb; hat nie richtig funktioniert, weil jede Knallcharge
„Herrschaftswissen“ für sich behalten wollte; jetzt wurde damit ernst gemacht).
Das ganze „Volksleben“, will sagen: Das politische Leben,
ist in den letzten hundert Jahren viel leiser, viel gelassener geworden. Jeder
weiß, daß an dem Sprichwort: „Es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht
wird“ etwas dran ist. Jeder kann regelmäßig in das Geschehen eingreifen, jeder
kann sich jederzeit informieren, aber jeder muß sich auch mit jedem
verständigen können.
Eines ist da noch. Wenn die Selbstverwaltungseinheiten, die
Regionen, doch so gut funktionierten, was sollte dann der Staat noch? Weißt Du,
Rudi, ein Staat lebt durch sein Staatsvolk. Wenn das sich so versteht, dann ist
er da. Mehr steckt nicht dahinter. Entweder hast du ein Vaterland oder du hast
keines.
Und wie ging das alles über die Bühne, wie habt ihr das hingekriegt?
Schnell und einfach ging das. Der erste Schritt war, den
Menschen in unserem Land aufzuzeigen, ja ihnen nur einmal kurz, blitzartig vor
Augen zu führen, was die Gutbürgerlichen angerichtet hatten. Die hatten nämlich
eine neue Unterschicht der Sklavenarbeiter erfunden, die Leiharbeiter.
Allederdings hatten sie dabei den gleichen Fehler gemacht, den alle
selbsternannten Herrenmenschen machen. Sie hatten sich von ihren Sklaven
abhängig gemacht.
In unserem Fall war das so: Die Leiharbeiter hatten die
gesamte Logistik in der Hand. Dort lief nichts mehr ohne sie. Und Logistik, das
ist das Ding, mit dem man der Wirtschaft einfach den Stecker ziehen kann. Haben
wir auch gemacht. Allein die Aussicht auf nur sieben Tage Ausfall der
Leiharbeiter – die sich plötzlich an einem Montag etwas unpäßlich fühlten –,
machte allen klar, was hier los war. Schon am zweiten Tag waren die Lebenmittelmärkte
leer und die Leiharbeiter wieder genesen.
Das war eingentlich nichts weiter als eine kurze
Demonstration. Ohne echte nachhaltige Wirkung. Aber die Gutbürgerlichen waren
dadurch vollkommen aus der Spur gebracht. Das Damoklesschwert der Ohnmacht
schwebte über ihnen. Sie hatten zwar selbst immer gewußt, daß das mit den
Leiharbeitern so nicht gut gehen konnte. Mir hatte einmal ein gutbürgerlicher
Arzt (also kein Heiler wie wir ihn verstehen) gesagt: „Wie, Herr Schrat, Sie
sind Leiharbeiter! Aber da müssen Sie doch immer für andere (die Verleiher)
mitarbeiten. Das ist doch nichts.“ Er hatte Recht. Nur begriffen hatte er
nichts.
Es war eine Zumutung, stets ein dickes, nach seiner Flasche
schreiendes Kind mit sich herumzutragen. Die Leiharbeitergenossenschaft war
die erste, die wir geschaffen haben. Der Rest ging eigentlich von allein.
Und ansonsten haben wir halt das ganze System da
ausgehebelt, wo es am einfachsten war. Die Parteienlandschaft wurde um eine
Partei erweitert, um den Fuß in die Tür zu kriegen. Wir haben die
Vaterlanspartei gegründet. Denn genau darum ging es: Das eigene Vaterland neu
aufzubauen. Wer von anderen etwas erwartet, der muß halt erst einmal vor der
eigenen Türe kehren. Der muß halt erst einmal sein eigenes Haus bestellen.
Aber dieses Wort „Vaterland“. War das denn nicht verboten?
Ich kann mich nicht daran erinnern. Es hätte mich auch nicht gestört. Das ganze
politische Leben damals bestand fast nur noch aus Denkverboten und
Denkverbotinnen. Klar gab es da die eine oder andere hochgezogene Augenbraue,
ordentlich hochgezogen sogar. Aber die kam auch wieder runter. Wie schon
gesagt: Entweder hast du ein Vaterland oder du hast keines. Punkt.
Und in genau diesem Stil lief die ganze Sache weiter. Es kam
nicht so sehr auf neue Gesetzgebung und ähnliches an. Viel wichtiger war es,
all denen Gehör zu verschaffen, die bis dahin in die Ecke der „Spinner“, der
„Geht aus Sachzwanggründen nicht“, der „Geht aus politischer Rücksichtnahme
nicht“ und der „Geht nicht aus ?????“ gestellt worden waren. Dazu gehörten auch
die „Experten“. Bei uns durften sie mitmachen. Vorne, wenn sie wollten. Sie
waren nicht mehr nur Kofferträger brunzdummer Bürgerthaler.
All die Veränderungen im Energiebereich, die ich Dir
beschrieben habe, die brauchten im wesentlichen gar nicht erfunden zu werden.
Die Herrschenden hatten, in guter kapitalistischer Tradition, jeder Innovation
den Weg versperrt, die ihre Pfründe hätte auch nur ansatzweise gefährden
können. Nun, deren Lobbyisten wurde einfach nur den Zugang zur politischen
Führung verwehrt. Sie klingelten Sturm an der Tür, aber sie wurden nicht mehr
eingelassen. Oder gaubst Du, ich hätte jemals auch nur einen Fuß in das
KDF-Werk in Fallersleben gesetzt.?
All die anderen aber, die haben wir uns angehört. Lange und
geduldig. Auch die ganz verschrobenen. Warum auch nicht. Zeitdruck dann zu
erzeugen, wenn es auf Genauigkeit, wenn es auf wirklich bedeutungsvolle
Veränderungen ankommt, ist eher weniger zielführend, um eine Floskel aus der
Zeit zu gebrauchen.
Wir haben es Menschen ermöglicht, hochzukommen. Nach eigenem
Glück zu streben. Und wenn die sich halt als etwas Besseres, wenn die sich halt
als Elite verstanden, dann war es auch gut. Der zum Beipiel mit dem ersten
neuen Auto (die Modellreihe „El Furioso“, vom Kleinwagen bis zum Transporter),
der hat auch eine absolut elitäre Hochschule gegründet. Noch heute sehen die
sich dort als „King of the road“. Na und! Wir waren nicht die mit dem
Neidkomplex. Dem richtigen Neidkomplex der Gutbürgerlichen: Bloß niemanden
hochkommen lassen. Das gefährdet nur die eigene Macht. Das verhindert aber auch
jede Verbesserung. Und die Gefahr neuer Herrschaftsklassen, nun die haben wir
ja anderweitig abgewendet. Wer keinen direkten Zugriff auf die Menschen hat,
der beherrscht sie auch nicht.
Im übrigen: Wer gehen wollte, vor allem solche aus den
Reihen der mittelständisch mittelmäßigen (Erben-) Unternehmern, der konnte
gehen (wir waren sogar froh darüber). Die konnten mitsamt ihrem Hofstaat,
mitsamt ihrer Stammbelegschaft gehen. Die konnten auch ihr Geld mitnehmen. Wir
haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Die Welt war vielleicht doch zu groß
für sie.
Übrigens: Es wurde eine neue Verfassung gemacht. Die alte zu
flicken reichte nicht. Hat nur einen Sommer gedauert.
Und Europa und die Welt? Haben die denn nicht geschimpft
oder sogar mit dem Fuß aufgestampft? Weiß ich nicht mehr. Ich hatte nicht
hingehört. Doch haben sie wohl, aber wir haben ihnen halt einfach nicht mehr
dreingeredet, wie das bis dahin immer so war. Die sollten nicht so werden wie
wir. Wir wollten uns selbst neu „aufstellen“, wie man das so sagte. Und solange
wir uns um uns selbst kümmerten, solange waren die anderen auch beruhigt.
Das ist die Lektion: Gordischer Knoten gefunden – und gelöst!
Nur diese wenigen Kernpunkte reichten völlig aus, um den Neustart
auszulösen. Es war kein objektives Problem, das es zu lösen galt. Rudi, das
sollst du erkennen. Der berühmte Gordische Knoten, den keiner lösen und den nur
irgendein Superheld durchschlagen konnte. Diesen Knoten gibt es gar nicht. Und
wenn, dann höchstens im Kopf. Und wenn Du ihn da vorfindest, dann lasse ihn
einfach nach unten gleiten, setze dich hin, entspanne – und laß ihn fallen (Spülung drücken nicht
vergessen). Gegen die Schwerkraft hat auch solch ein Knoten keine Chance.
Nur die Bürgerthaler, die immer noch an ihrem Zug standen,
die wollten einfach nicht gehen. Niemand hätte sie auch haben wollen. Da haben
wir ihnen um ihren Zug herum ein Reservat gebaut. Da sollten sie nach ihrer Façon glücklich werden. Wurden Sie aber
nicht. Und sie sollten uns noch einmal mächtig gewaltig auf den Geist gehen.
Einmal noch.
Das Ende der Bürgerthaler
Eine Generation lang hatten wir von denen nichts mehr
gehört. Aber dann! Und fast hätten wir dabei vergessen: Gelassenheit statt
Aufgeregtheit! Lieber dreimal nachdenken! Doch eines nach dem anderen.
Die ersten Jahre hatten die Bürgerthaler ja in ihrem
Reservat noch die Erforschung des Landes hinter der sanften Kuppe ganz oben auf
der Agenda. Aber dann hatten sie dazu keine Lust mehr und wollten zurück zu
ihren Wurzeln.
Sie fingen all die Spiele von früher wieder an zu spielen.
So spielten Sie „Fördern und Fordern – Wir hartzen uns zu Tode!“ Das war das
Erklimmen eines sanduhrförmigen Turmes (so ein Kühlturm). Immer wenn man mitten
drin auf der Strecke in der Luft hing, dann wurden von oben die Kletterseile
gekappt.
Ein anderes Spiel war „Flexible Arbeitsordnung – Wir telefonieren
mit der SS!“ So hatten das ihre Vorfahren gemacht. Immer wenn sie Arbeiter
brauchten, haben sie bei der SS angerufen. Die hatten wirklich die alten
Telefonnummern wieder aktiviert! Das ging uns dann so langsam ganz gewaltig auf
die Nerven.
Als sie aber anfingen, „Selektion an der Rampe“ zu spielen,
da war das Maß voll. Wir stellten diese Dreckschweine zur Rede. Die antworteten
aber nur in rotzfrecher Proletenart: „Na und! Wir sind doch jetzt Demokraten!“.
Der mir das erwiderte, denn wollte ich auf der Stelle erschießen.
Es waren aber die ganz alten, besonnenen Waldschrate damals
dabei. Die haben uns mittelalte Schrate daran gehindert, einfach nachzuholen,
was 1945 versäumt worden war. So haben wir in drei Tagen und Nächten die ganzen
„Werke“ der Bürgerthaler niedergebrannt, daß noch nicht einmal Ruinen
übrigblieben. Danach haben wir uns erst einmal zurückgezogen und beraten.
Was sollten wir mit denen machen? Denn die anderen Staaten
um uns herum hatten sehr genau hingesehen, was wir da so trieben. Sie hatten
schon Angst vor einem Bürgerthalerkrieg bei uns. Traditionsgemäß, um es einmal
so zu umschreiben, hätten wir den garantiert „exportiert“. Sie hatten nämlich
vor allem Angst davor, daß wir ihnen die Bürgerthaler hinüberjagen würden.
Aber die mußten weg! Also kamen wir auf die Idee, sie in der
Antarktis anzusiedeln. Aber als ich sah, wie die Pinguine in Tränen ausbrachen,
als wir unseren Wunsch vortrugen, da erbarmte es mich. Ich konnte einfach nicht
so Gottes Schöpfung schänden.
Dann kam einer unserer ältestens Schrate auf die Idee: „Make
Love! Not War!“ Was war das? Hatte der alte Tattergreis sich wieder an die
Hippies erinnert, hinter seiner faltigen Stirn? Nein. Was der da sagte war
genial. So läuft das immer in der Evolutution der Menschen, auch der
schratigen. Eine Art verschwindet sicherlich zum Teil durch Inzucht. Vor allem aber
durch Aufgehen in einer anderen. Es bleibt dann halt immer ein Rest im Genpool
(wie von den Neanderthalern), aber die Art an sich ist verschwunden. Wir
brauchten nur nachzuhelfen. Wir mußten die einfach nur gezielt verkuppeln. Und
die Bürgerthaler, die das nicht wollten, die konnten ja gern auf die Ergebnisse
der Inzucht warten.
Für uns Schrate kam das aber ganz und gar nicht in Betracht.
Gott sei Dank sind wir ja von unserer ganzen Art die Häßlichkeit in Person
(dicke Nase mit Warze darauf und so). So ging dieser Kelch an uns Schraten
vorbei.
Wir haben noch einmal richtig Geld in die Hand genommen und
eine riesige „Romeofalle“ gebaut. Wir haben die Besten der Besten der Besten
der Giggolos und Romeos weltweit angeworben. Wir haben sie fürstlich entlohnt.
Sie waren echte Spezialisten. Sie waren Kapazitäten. Hut ab! Die haben die
Weibchen der Bürgerthaler gleich in ganzen Hundertschaften verführt Die nächste
Generation war zwar äußerlich etwas bunter als vorher, was ganz gut aussah.
Innerlich, vor allem charakterlich aber war die schon um Klassen besser. Drei Generationen
und der Drops war gelutscht!
Heute
Alles erledigt? Stehenbleiben gibt es in Gottes Schöpfung nicht;
man kann sich nur ab und an etwas ausruhen. Du, Rudi, darfst dich noch nicht
ausruhen. Daher zum Abschluß: Mein Vaterland, so wie ich es mir als junger
Schrat in der Kobold- und Wichtelschule einmal ausgemalt hatte:
Mein Vaterland ist leise …
In meinem Vaterland da sind nur das Rauschen der Bäume im Wind
und das Lachen der Kinder laut
In meinem Vaterland da hören die Menschen einander zu
In meinem Vaterland da sind nur das Rauschen der Bäume im Wind
und das Lachen der Kinder laut
In meinem Vaterland da hören die Menschen einander zu
Mein Vaterland ist respektvoll …
In meinem Vaterland da achten die Menschen einander
und sie anerkennen des anderen Art
In meinem Vaterland da bedankt man sich
In meinem Vaterland da achten die Menschen einander
und sie anerkennen des anderen Art
In meinem Vaterland da bedankt man sich
Mein Vaterland ist ehrenhaft …
In meinem Vaterland da bekennen sich die Menschen zu ihrer Schuld
und zu dem Leid, das sie anderen gebracht haben
In meinem Vaterland da bittet man
In meinem Vaterland da bekennen sich die Menschen zu ihrer Schuld
und zu dem Leid, das sie anderen gebracht haben
In meinem Vaterland da bittet man
Mein Vaterland ist tapfer …
In meinem Vaterland sieht niemand weg,
wenn ein anderer bedroht wird
In meinem Vaterland da fürchtet man sich nicht
In meinem Vaterland sieht niemand weg,
wenn ein anderer bedroht wird
In meinem Vaterland da fürchtet man sich nicht
Mein Vaterland ist fleißig …
In meinem Vaterland da arbeiten die Menschen für ihren Erfolg,
sie wollen nicht auf Kosten anderer leben
In meinem Vaterland da ehrt man die Arbeit
In meinem Vaterland da arbeiten die Menschen für ihren Erfolg,
sie wollen nicht auf Kosten anderer leben
In meinem Vaterland da ehrt man die Arbeit
Mein Vaterland soll Deutschland werden
Ich wünsche Dir ein friedliches, aber auch ein kraftvolles
2113.
Herzlichst, Dein Waldschrat.
Westfalen, am
Jahresende 2112
Dieser Beitrag gehört zur Reihe „Politische Geschichte der Waldschrate in
Deutschland“
Projekt: Die Relativität der Schrate – Schrate im Strom der Zeit
Autor: Peter Rudolf Knudsen
Projekt: Die Relativität der Schrate – Schrate im Strom der Zeit
Autor: Peter Rudolf Knudsen
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen